„Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte.“ (Carl Gustav Jung)
Als ich die Einsicht hatte, etwas in meinem Leben verändern zu müssen, um ein gesünderes und glücklicheres Leben zu führen, dachte ich zunächst, dass die Veränderung darin bestehen würde, dass ich meine „Fehler“ mit Hilfe einer Therapeutin korrigiere. Als Ergebnis erhoffte ich mir eine bessere Version von mir selber mit weniger Fehlern und mehr Freude im Leben. Ich ging das Thema „Heilung“ somit an, wie jeden anderen Bereich in meinem Leben: Es muss perfekt werden, denn nur dann werde ich glücklich.
Eine Korrektur stand für mich dabei im Vordergrund: Als mein „Hauptproblem“ und den Auslöser anderer Probleme empfand ich meine hohe Sensibilität. Meine Dünnhäutigkeit wollte ich durch ein „dickes Fell“ ersetzen - oder anders ausgedrückt: Ich wollte ein Fels in der Brandung werden, den so schnell nichts mehr erschüttert.
Viele Menschen, laute Geräusche, intensive Gerüche – schnell fühlte ich mich von Reizen überflutet. Nicht nur die Wahrnehmung äußerer Reize, sondern auch die intensive Wahrnehmung innerer Eindrücke empfand ich als störend: Permanentes Gedankenkreisen, Reflektieren, Interpretieren und Analysieren meiner inneren und der äußeren Welt führte dazu, dass ich nur schwer zur Ruhe kam. Ich nahm zudem die Stimmungen meiner Mitmenschen wahr und konnte schlechte Stimmung und Streit kaum aushalten. Auf den daraus resultierenden Stress reagierte mein Körper mit Symptomen wie Magenschmerzen, Lebensmittelunverträglichkeiten, Entzündungen oder Tinnitus. Die Reizüberflutung auf allen Kanälen führte zu Erschöpfung und dem Gefühl, mit mir und der Welt überfordert zu sein. Selbst nachts hatte ich den Eindruck, mich nicht ausruhen zu können, denn alles Erlebte wurde in meinen Träumen, an die ich mich jeden Morgen erinnern konnte, weiterverarbeitet.
Als meine Freundin mit zwölf Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfall starb, war meine Trauer und das Vermissen so schmerzhaft und so intensiv, wie kein Gefühl, das ich jemals zuvor empfunden hatte. Ich befürchtete, nie wieder glücklich werden zu können und nahm mich auch in dieser Situation als zu sensibel, komisch und irgendwie falsch wahr. Gleichzeitig hatte ich Angst, dass auch andere Menschen mich für übersensibel halten könnten und versuchte meine „Schwäche“ durch Perfektionsstreben und Leistung wieder gut zu machen. Die Sucht nach dem Dünnsein wurde dabei zu meinem Betäubungsmittel. Ich fokussierte mich immer stärker auf meinen Körper, das Thema Essen und Leistungsdenken, wodurch zumindest teilweise andere störende Reize in den Hintergrund zu treten schienen.
Zu Beginn meiner Therapie hatte ich bereits begriffen, dass die Flucht in die Magersucht kein Weg ist, der mir zu langfristiger Zufriedenheit im Leben verhelfen würde.
Ich war aber der Annahme, dass ein „dickeres Fell“ die Lösung meiner Probleme sein könnte. Ein Fell, an dem äußere Reize abprallen und das mich davor beschützen würde, zu viele und zu intensive Empfindungen zu haben.
Meine Erwartungen an die Therapie waren jedoch ein Irrtum: Es wuchs mir kein dickes Fell. Sehr langsam aber kontinuierlich wuchs stattdessen das Verständnis dafür, dass ich auf meinem Heilungsweg nicht dann weitergehe, wenn ich versuche, meine Sensibilität als Schwäche aus dem Weg zu räumen, sondern dann, wenn ich sie als Teil von mir annehme. Und vor allem machte ich die Erkenntnis, dass meine größte Schwäche gleichzeitig eine große Stärke ist: Sensibilität ist kein Fehler, sondern eine Gabe, die neben ihren Nachteilen, viele Vorteile mit sich bringt: Zum Beispiel die Fähigkeit, sich gut in andere Menschen hineinversetzen zu können, ein verständnisvoller Zuhörer für sie zu sein und ebenso die innere Stimme, die eigene Intuition zu hören. Sensible Menschen können nicht nur störende Reize intensiv wahrnehmen, sondern auch positive Reize: Gefühle wie Freude oder Liebe, angenehme Düfte, Geschmacksnuancen, visuelle Reize oder Musik. Körper und Geist sensibler Menschen springen schnell auf homöopathische Mittel oder Entspannungstechniken an, was eine große Erleichterung im Alltag bedeuten kann.
Ich lernte, dass ein guter Umgang mit der eigenen Sensibilität bedeutet, sich die Rahmenbedingungen im Leben zu schaffen, die es einem ermöglichen, trotz vieler Reize, Zeiten der Erholung und Ruhe zu finden. Es ist okay, sich Pausen zu nehmen und es ist okay, wenn es mehr Pausen sind, als andere Menschen brauchen oder sich zugestehen.
Für mich bedeutet Heilung nicht, ein fehlerfreier Mensch zu werden, sondern die eigenen Stärken und Schwächen kennenzulernen und anzunehmen, ohne den Anspruch zu haben, perfekt zu sein. Es gibt keinen Grund, Sensibilität mit übertriebener Leistung im Studium, im Beruf oder im Umgang mit sich selber zu entschuldigen. Gute Noten oder ein bestimmtes Gewicht sind nicht der Schlüssel zum Glück. Perfektionsstreben hat mich auf meinem Weg bisher nie weitergebracht, sondern auf viele Umwege geleitet. Was mich wirklich weitergebracht hat, war die Erkenntnis, dass mir kein dickes Fell wachsen wird und dass ein dickes Fell auch gar nicht wünschenswert wäre, da es Eigenschaften überdecken würde, die andere Menschen an mir schätzen und die ich ebenso gut für mich selber nutzen kann.
Heilung bedeutet für mich, die positiven Seiten meiner Sensibilität zu stärken, zu nutzen und Frieden zu finden – Frieden in mir und in meinem Leben.
Eine Affirmation, die mich dabei täglich unterstützt, ist diese:
In der Ruhe liegt meine Kraft.
Leseempfehlung:
Artikel: Heilungsweg Teil 1 - Wie dir eine Vision bei den ersten Schritten auf deinem Weg helfen kann
___
Comments